Die tauchsportärztliche Untersuchung bei Kindern und Jugendlichen: Aspekte des Wachstums

Einführung

In keinem Alter gibt es so viele körperliche und geistige Veränderungen wie im Kindes- und Jugendalter. Exemplarisch gehe ich hier auf einige Aspekte ein:

 

Wachstum

Kinder wachsen je nach Alter und Entwicklung unterschiedlich schnell. Am höchsten ist die sogenannte Wachstumsgeschwindigkeit (Größenzunahme in cm pro Jahr) im Mutterleib und frühen Säuglings- und Kleinkindesalter. Im ersten Lebensjahr beispielsweise wachsen die Kinder bis zu 25cm im Jahr. Danach fällt die Wachstumsgeschwindigkeit auf ein relativ konstantes Niveau und steigt dann in der Pubertät noch einmal stark an. In mehreren weltweiten Untersuchungen wurde gezeigt, dass über die letzten 100 Jahre hinweg die Pubertät immer früher, insgesamt etwa zwei Jahre früher, einsetzt, - aktuell bei Mädchen zwischen dem 9. und 12. Lebensjahr und bei Jungen zwischen dem 10. und 13. Lebensjahr. Das bedeutet, dass auch der pubertäre Wachstumsschub deutlich früher stattfindet. Die höchste pubertäre Wachstumsgeschwindigkeit erfolgt bei Mädchen mit 11,5 Jahren, bei Jungen mit 13,5 Jahren. In der Pubertät wächst der Körper ungefähr um 20% der zu erreichenden Endgröße.

Die Regelung des Wachstums ist kompliziert und individuell sehr verschieden. Die Gene bestimmen vorwiegend, wie das Wachstum abläuft und welche Endgröße der Einzelne erreicht. In den ersten zwei Lebensjahren ist das Wachstum vor allem von Ernährung und Umweltfaktoren abhängig. Danach werden zunehmend das Wachstumshormon und später die Sexualhormone für das Längenwachstum wichtig.

Zu unterscheiden ist auch die Art des Wachstums in den unterschiedlichen Altersphasen:

Vor der Pubertät bestimmt das sogenannte harmonische Wachstum das Bild. Das heißt, die Körperproportionen bleiben erhalten, das Kraft-Last-Verhältnis wird optimiert, die Körperbeherrschung ist hochgradig. Die Wachstumsgeschwindigkeit beträgt hier etwa 5-6cm/Jahr.

In der Pubertät entsteht das Längenwachstum zunächst vor allem an Extremitäten. Das Muskelwachstum bleibt deutlich hinter dem Knochenwachstum zurück und es kommt so zu einem ungünstigen Kraft-Last-Verhältnis, also zu einer Disharmonie des Halte- und Bewegungsapparates. Die Wachstumsgeschwindigkeit beträgt hier 9-12cm/Jahr.

In der späten Pubertät und im frühen Erwachsenenalter wird „reharmonisiert“: Die Muskulatur holt auf, die Wachstumsgeschwindigkeit von Rumpf und Wirbelsäule sinkt auf 3cm/Jahr. Die Koordination und das Kraft-Last-Verhältnis werden wieder optimiert und die Kraft steigt bis auf Werte des Erwachsenen an.

Für den Tauchsport ist deswegen das Erkennen von genetischen oder auch posttraumatischen Störungen des Wachstums wichtig.

Unbedingt erwähnt werden soll auch die in der Pubertät schlechtere muskuläre Verspannung und Stützung der Wirbelsäule und die relative Verkürzung der Muskulatur und Sehnen. Die Jugendlichen werden „pubertätssteif“ und „ungelenkig“, d.h. die Koordination wird schwächer. Angepasstes Tauchequipment ist auch in diesem Alter essentiell, um Fehlbelastungen und Rückenschmerzen vorzubeugen. 

 

 

 

Motorisches Lernen

Die individuelle motorische Entwicklung zeichnet sich ebenfalls durch eine enorme Variationsbreite aus. Neueste Untersuchungen aus der Hirnforschung sehen den Beginn des motorischen Lernens bereits früh in der Schwangerschaft. Erste Bewegungen wurden schon ab der achten Schwangerschaftswoche nachgewiesen. Nach der Geburt besitzt das Neugeborene bereits ein Repertoire an Bewegungen, die primär noch weitgehend unwillkürlich sind und in ihrer Ausprägung vor allem genetischen Einflüssen unterliegen. Das Kind beginnt zunehmend die Spontanmotorik zu steuern, sucht sich aus seinen persönlichen Erfahrungen die effizientesten Bewegungsabläufe heraus und passt sie seinen individuellen Bedürfnissen an. Aus der Neurobiologie weiß man, dass das Gehirn entsprechend Synapsen strukturell organisiert und Verknüpfungen auswählt.

Neben der Entwicklung dieser ganz basalen motorischen Fähigkeiten ist das Erlernen der späteren, sehr interessensabhängigen Fähigkeiten wie etwa Fußballspielen oder Radfahren vor allem von der Übung abhängig.

Die Entwicklung motorischer Fähigkeiten ist ein komplizierter Prozess und, wie erwähnt, individuell sehr verschieden. In der tauchsportmedizinischen Untersuchung müssen Abweichungen von der normalen Entwicklung erkannt werden.

 

 

Geistige Entwicklung

„Denken“ lernen ist ein sehr vielschichtiger Prozess. Es beinhaltet zunächst die Fähigkeit, Hören, Sehen, Fühlen zu verarbeiten und eine Sprache zu erlernen. Im Verlauf der ersten Jahre denkt das Kind noch sehr gegenständlich, ist noch sehr „Ich“-bezogen und verwechselt teilweise Denken und Tun. Zunehmend beginnt es, die Dinge zu hinterfragen. Im Alter von etwa sechs bis sieben Jahren ist es noch sehr im Hier und Jetzt verhaftet, übt sich jedoch schon im logischen Denken. Abstraktes Vorstellungsvermögen wird ausgebildet und ist mit zwölf Jahren praktisch auf dem Niveau von Erwachsenen.

Diese Entwicklung verläuft individuell sehr unterschiedlich. So können zwei zehnjährige Kinder in ihrer geistigen Reife völlig verschieden sein. Eines ist möglicherweise noch sehr verspielt, während ein anderes Kind schon weit im logischen und abstrakten Denken entwickelt ist. Auch zeigen sich Schwächen in der Konzentrationsfähigkeit sehr unterschiedlich.

Körperliche und geistige Entwicklung verlaufen nicht immer parallel. Erwähnt werden muss auch unbedingt die emotionale Reifung, die gerade in der Pubertät durch die Veränderungen im Gehirn geprägt ist. Die Jugendlichen erleben starke emotionale Labilität und Selbstzweifel bis hin zur Identitätskrise. Die Frustrationstoleranz sinkt. Gleichzeitig kommen bei vielen Jugendlichen Größen- und Allmachtsphantasien auf. Sie fühlen sich unbesiegbar und zeigen eine deutlich gesteigerte Risikobereitschaft. Zum Ende der Pubertät folgt dann die Ausbildung eines neuen Selbstwertgefühls. Die Jugendlichen sind mehr und mehr zukunftsorientiert und beginnen einen beruflichen und privaten Lebensplan zu entwerfen.

Logisches und abstraktes Denken, die Fähigkeit, sich zu konzentrieren und Anweisungen zu befolgen, ist essentiell für die Ausbildung zum Tauchsport und für jeden Tauchgang. Letztendlich wird sich das individuelle, auch psychosoziale Verhalten erst in der Ausbildung zeigen und ist in der tauchsportmedizinischen Untersuchung oft nicht abschließend beurteilbar. Der Tauchausbilderin/dem Tauchausbilder kommt hier in der Beurteilung eine besondere Verantwortung zu, ob  und wie das Kind/die Jugendlichen die notwendigen Voraussetzungen jeweils konkret erfüllen.  

 

Erkrankungen

Kinder und Jugendliche können je nach Alter und Entwicklungsstadium unter verschiedenen Erkrankungen unterschiedlich stark leiden.

Beispielsweise kann ein achtjähriges Kind noch durch große sogenannte „Polypen“ im Nasenrachenraum Probleme mit dem Druckausgleich haben und zu Mittelohrentzündungen neigen. Die „Polypen“ sind Rachenmandeln (lymphatisches Gewebe), die für die Infekt-Bekämpfung im frühen Kindesalter wichtig sind und durch ihre Lage die Belüftung des Mittelohres behindern können. Im späteren jugendlichen Alter spielt dies praktisch keine Rolle mehr.

Für die Lunge gilt ähnliches: Die Lunge des Kindes zeigt gegenüber der Lunge des Erwachsenen eine erhöhte Lungendehnbarkeit und verminderte elastische Rückstellkraft. Sie neigt zum Verschluss der kleinen Atemwege bereits bei Ruheatmung. Durch die anatomisch kleineren Durchmesser der Bronchen neigt die kindliche Lunge zu Atemwegsobstruktionen. Ein hyperreagibles Bronchialsystem oder ein Asthma bronchiale hat damit im Kindes- und Jugendalter einen ganz anderen Stellenwert als im Erwachsenenalter. Allergien, die gerade im Kindes- und Jugendalter erstmals diagnostiziert werden, sind sehr ernstzunehmen und in ihrer Wertigkeit sorgfältig zu hinterfragen (Stichwort Medikamente, Asthmaspray).

Aufgabe der tauchsportmedizinischen Untersuchung ist es, in jeder Altersstufe typische Erkrankungen zu erkennen und ihre Relevanz für den einzelnen/die einzelne einzuordnen.

 

Zusammenfassung

Die enorme Varianz in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen verpflichtet uns zu einer besonders sorgfältigen tauchsportmedizinischen Untersuchung. Kein Kind, keine Jugendliche/kein Jugendlicher ist wie die/der andere. Die größten allgemeinen Veränderungen sollten grundsätzlich bis zum Ende der Pubertät stattgefunden haben. Daher sollen bis zum 15. Geburtstag die tauchsportmedizinischen Untersuchungen jährlich durchgeführt werden. In der Zeit zwischen dem 15. und 18. Lebensjahr  soll das Untersuchungsintervall individuell - je nach Entwicklung der Jugendlichen/des Jugendlichen - gestaltet werden, maximal jedoch drei Jahre betragen.

Haben Sie noch Fragen? Ihre Kinder- und Tauchärztin berät Sie gerne,

Herzliche Grüße, Anette Meidert